Emigration und Exil von Wissenschaftlern und Ingenieuren 1930-1950


USA





Inhaltsverzeichnis

Einleitung
Emigration vor 1933, Situation der indigenen Urbevölkerung und der Sklavenhandel
Frühe Migration (-1933)
Schwierigkeiten und Erfolge bei der Integration bzw. Assimilation
Hilfsorganisationen
Wer emigrierte in die USA?
Migration nach 1945 – “Operation Paperclip”
Fazit
Verwendete Literatur
Ausgewählte Webseiten


1. Einleitung



Die Vereinigten Staaten von Amerika können auf eine lange Tradition als Einwanderungsland zurückblicken. Bis 1880 wanderten hauptsächlich Menschen aus West- und Nordeuropa in die USA ein. Politische Umwälzungen, soziale Mißstände und Hungersnöte in Europa und Osteuropa veranlassten viele Menschen, ihr Glück in den USA zu suchen (siehe dazu z.B. Pross 1955: 30ff.). Die Einwanderung wurde noch durch den Homestead Act gefördert, der den Einwandernden die Aussicht auf kostenloses Land im Westen zusicherte.



2. Emigrationsphasen



Die gesamte Besiedelung des amerikanischen Kontinentes war eng verknüpft mit der europäischen Emigration und die fast vollständige Vernichtung der indigenen Bevölkerung. Während die Einwohnerzahlen der USA ab dem 18. Jhd. immer weiter stiegen, sank die Zahl der amerikanischen Ureinwohner stetig und wurde so zu einem der dunkelsten Kapitel der US-amerikanischen Migrationsgeschichte. Die US-Indianerpolitik, eingeschleppte Seuchen und die Deportation in sog. Reservate dezimierte die Zahl der Indigenen drastisch, heute zählen nur noch ca. 1,3% der US-Bürger zur ethnischen Gruppe der sog. „First Nations“, Indianer, Eskimos und Aleuten.
Ein weiterer dunkler Aspekt der amerikanischen Einwanderungsgeschichte ist der transatlantische Sklavenhandel, heute sind ca. 13% der US-Bürger Afroamerikaner. Im Gegensatz zu den europäischen Emigranten, die ihre Sprache und Kultur oft über Generationen bewahren konnten, ist von den Sprachen und den Kulturen dieser Menschen wenig erhalten. Mit der Afroamerikanistik bzw. „African American studies“ hat sich ein interdisziplinärer Zweig in der Wissenschaft entwickelt, der sich mit der Geschichte, der Kultur und der Politik der Afroamerikaner widmet.
Die größte Einreisewelle mit 14,5 Millionen Emigranten fand 1900–1919 statt. Nach dem 1. Weltkrieg unterlag die Einwanderung dann aber einer Quotierung. Die LPC- Klausel (likely to become a public charge) besagte, dass Einwanderer eine Bürgschaft, das Affidavid eines amerikanischen Bürgers für die Einreise brauchten. Die Gesamteinwanderung wurde 1921 auf 164.667 Personen pro Jahr beschränkt, für deutsche Einwanderer galt eine Quote von 51.227 Personen. Zwischen 1925 und 1930 wurden diese Quoten fast ganz ausgereizt, in den Jahren danach bei weitem nicht, wie folgendes Balkendiagramm zur Ausnutzung der Quoten bzw. zur Gesamtzahl der Auswanderer aus Europa mit geschätzten Anteilen der aus religiösen oder politischen Gründen Geflüchteten aus Bach 1962: 13 zeigt:




Emigration ab 1933 bis 1945, Einreisebestimmungen



Die Einwanderungsquote von 51.277 Personen für die deutschen Einwanderer wurden bis 1938 nicht erreicht. Tatsächlich suchten viele Deutsche, die dem NS-Regime entfliehen mussten, erst einmal im benachbarten europäischen Ausland Zuflucht. Amerika war weit entfernt und galt als „Point of no return“. Als viele dieser Zufluchtsländer im WWII ebenfalls vom ‚Dritten Reich‘ okkupiert wurden, waren die Geflüchteten schließlich aber dann doch gezwungen, ins überseeische Ausland zu emigrieren. Zum Zeitpunkt ihrer Immigration in die USA hatten sich 85% der Befragten bereits entschieden, dauerhaft zu bleiben, nur 3,3% wollten lediglich zeitweilig bleiben und 10,7% waren noch unentschieden (nach Kent 1953 bzw. Bach 1962: 100). Für die USA wurde aber nur bis zu einem Drittel des Kontingentes ausgeschöpft; die o.a. LPC Klausel (die das Affidavit eines bereits in den USA ansässigen Amerikaners erforderte) und die Transitprobleme erschwerten die Einreise. Roosevelts restriktive Auslandspolitik im Wahljahr 1938 spielte den Nationalsozialisten noch in die Hände und heizte die Stimmung in Amerika gegen die deutschen Emigranten an. Als nach der Eroberung Frankreichs 1940 tausende von Hilfesuchenden auf lebensrettende Hilfe aus Übersee hofften, wurden aber durch eine gezielte Verschleppungstaktik nur rund 1.000 zusätzliche Visa erstellt.
Wie bereits in einer 1939 von einer der zahlreichen Hilfsorganisationen, die die Emigranten bei ihrer Einwanderung unterstützten, dem American Friends Service Committee in Philadelphia zusammengestellten Übersicht wurden diese Quoten in den 8 Jahren vom 1. Juli 1932 bis zum 30. Juni 1939 bei einer Gesamtzahl von 241.962 Immigranten aus allen Ländern und von 45.952 Emigranten aus Deutschland und Österreich bis Mitte und 65.404 bis Ende 1938 faktisch in kaum einem Jahr ausgereizt (siehe Refugee Facts (1939): 5-9 sowie Davie 1947). Auf diese Nicht-Ausreizung der Quoten und die vielen fruchtbaren Auswirkungen dieser neu hinzukommenden Bevölkerungsteile im Einwanderungsland USA hinzuweisen war jenen Hilfsorganisationen auch deshalb so wichtig, um gegen Widerstände und Ängste der lokalen Bevölkerung anzuarbeiten, die in einer Zeit wirtschaftlicher Engpässe um ihre eigenen Stellen fürchteten und in den Emigranten nur zusätzliche Konkurrenten um die raren Stellen im eigenen Land sahen. Auch antisemitische Vorbehalte waren bei Teilen der amerikanischen Bevölkerung und bis in akademische Kreise hinein durchaus vorhanden (siehe dazu z.B. Morse 1968, Rider 1984 sowie S. Norwood in Fritz u.a. (Hrsg.) 2016).
Erst im Rückblick wurde klar, was der Kunsthistoriker Erwin Panofsky (1892–1968) für sein Fach nicht müde wurde zu betonen und was in gleicher Weise auch für viele andere akademische Disziplinen aufgezeigt wurde: „No foreign art historian has, to the best of my knowledge, ever displaced an American-born. The immigrants were either added to the staffs of college or university departments already in being […], or were entrusted with the task of instituting the teaching of the history of art where it had previously been absent from the scene.” (zit. aus Crawford 1953: 93).
Von den rund 500.000 Verfolgten, die aus Nazideutschland fliehen konnten, nahmen die USA fast 130.000 Menschen auf, das sind fast 1/3 aller Emigranten. Über 110.000 dieser Immigranten in die USA nach 1933 waren Juden. Allerdings haben noch weit mehr Antragsteller in europäischen US-Konsulaten vergeblich auf die Ausstellung eines Visums gewartet, von denen viele dann später im Holocaust umkamen. Insofern waren die USA insgesamt das wichtigste Emigrationsland überhaupt, wenn auch für viele nur die letzte Station in einer oft über mehrere Zwischenstationen erfolgenden Emigrations-Odyssee.



Schwierigkeiten und Erfolge bei der Integration bzw. Assimilation



Je nach Berufsfeld war die Aufnahme der Flüchtlinge in den USA sehr unterschiedlich schwierig. Mediziner etwa mussten medizinische Prüfungen wiederholen, um eine Approbation zur Tätigkeit als Ärzte zu erhalten; Rechtsanwälte mussten sich erst mit dem völlig anderen Rechtssystem vertraut machen, während z.B. Mathematiker und Physiker in vielen Fällen relativ schnell Zugang zu für sie angemessenen Positionen fanden. Alle Emigranten durchliefen eine mehr oder wenige lange Phase der Adaption an die neue Lebenswelt, die andersartige Mentalität der Amerikaner und an die den meisten nicht gut vertraute Sprache, begleitet von Gefühlen der Entwurzelung und Heimatlosigkeit (siehe hier die Beiträge über die Psychologie der Emigration bzw. über Wissensmigration).
Der 1953 auf seine Emigrationserfahrungen hin befragte protestantische Theologe Paul Tillich (1886-1965) erinnerte sich daran, in den USA anfangs nach eigenem Empfinden „sieben Gesellschaftsstufen“ herabgestiegen zu sein, auch wenn Positionen wie die als Tellerwäscher, Putzgehilfe oder Bauarbeiter, die viele Emigranten zeitweise annahmen, um sich und ihre Familie über Wasser zu halten, oft nur temporäre Übergangslösungen darstellten (Siehe den Beitrag von Tillich in Crawford 1953). Häufiger war allerdings der Übergang von ehemaligen Forschungs- in reine Lehrpositionen, z.B. als Dozent/in an unbedeutenden Colleges. Eine von Donald P. Kent an 721 auskunftswilligen Emigranten durchgeführte Befragung ergab, dass nur 12,9 einen im Vergleich zu ihrer alten Position in Europa höheren gesellschaftlichen Status erlangt haben, während 52,6% antworteten, er sei in den USA in etwa gleichgeblieben und 32,3% ihn für niedriger als in Europa hielten (2,2% gaben keine Antwort auf diese Frage – Zahlen aus Kent 1953 bzw. Bach 1962: 138). Eine Einbürgerung erfuhren von diesen nur 4,7% in weniger als 5 Jahren, 43,3% vollzogen diesen Schritt nach 5 Jahren (insb. Mediziner und Ingenieure), 26,5% wurden nach 6 Jahren naturalisiert und 10,9% nach 7 Jahren (Bach 1962, S. 154). Auch eine Umfrage durch das Committee for the Study of Recent Immigration from Europe unmittelbar nach Ende des 2. Weltkriegs ergab ein ähnliches Bild. Circa 50.000 Fragebogen mit detaillierten Fragen zu Werdegang, Emigrationsdaten und -erfahrungen wurden versandt, von denen immerhin 11.233 mit z.T. ausführlichen Antworten zurückkamen. Unter diesen Antworten stammten 707 von ehemaligen Dozierenden an Hochschulen und Universitäten, von denen 523 (also 74%) berichteten, auch in den USA eine Lehrstelle an einem Amerikanischen College oder einer Universität erlangt zu haben und 6 sogar bis zum Rang eines Department Heads oder gar zum Rektor eines Colleges aufgestiegen zu sein (Davie 1947: xvi, 315). Spitzenreiter unter den Wissensfeldern, in denen diese akademische Integration gelang waren Jura (74), Physik und Medizin (mit je 71 Fällen), Sprachen und Literatur, Chemie, und Ökonomie mit jeweils über 60), gefolgt von Mathematik (53) und Geschichte sowie Philosophie (mit 45) [ibid., 316]. Ingenieurwissenschaften und andere Gebiete hatten jeweils nur einstellige Zahlen von Fällen erfolgreicher akademischer Integration in diesem doch schon recht großen und insofern statistisch signifikanten Sample.



Hilfsorganisationen



Die Aufnahme einer insgesamt doch sehr großen Zahl geflüchteter Akademiker in den USA wurde nur möglich aufgrund der intensiven Hilfe zahlreicher Hilfsorganisationen, die sich gerade in den USA für Emigranten einsetzten (weiterführende Kommentare u. Literatur z.B. in Wetzel 1964, Strauss 1988; eine Zusammenstellung der c.200 wichtigsten regionalen Organisationen findet man in Davie 1947: 405-412, hier abrufbar als pdf).
Zu den für die Emigration in die USA wichtigsten international aktiven Hilfsorganisationen zählten die im Jahr 1933 gegründete Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland, das „Emergency Committee in Aid of Displaced German Scholars“, das über 300 Wissenschaftlern neue Arbeitsmöglichkeiten in den USA vermittelte (Duggan & Drury 1948), die Rockefeller Foundation, die bis 1939 etwa 750.000$ einsetzte, vor allem für temporäre Stipendien, um Emigranten (etwa 2/3 davon in den USA) ein Affidavit mit Nachweis gesicherter Anstellungsverhältnisse zu verschaffen und einen Neustart zu ermöglichen (Appleget 1946, Rider 1984: 145, Krohn 1987: 37ff.), die Carnegie Foundation sowie das American Jewish Joint Distribution Committee (JDC). Allein das JDC, dessen Hauptsitz sich in New York befand, das aber weltweit zahlreiche Niederlassungen hatte, rettete zwischen 1933 und 1941, dem Jahr des Ausreiseverbots für Jüdinnen und Juden aus dem von den Deutschen besetzten Europa, über 260.000 Menschen, aber für Wissenschaftler zentraler waren die erstgenannten Organisationen.



Wer emigrierte in die USA?



Der US Immigration and Naturalization Service gibt für die Jahre 1933 bis 1941 folgende Gesamt-Prozentzahlen für die aus Deutschland und Österreich geflüchteten Akademiker in verschiedenen Berufsgruppen (zit. nach Kent 1953 bzw. Bach 1962: 77)


Juristen 10,6%
Mediziner 30,9%
Journalisten 8,9%
Ingenieure 8,5%
Musiker 6,1%
Bildende Künstler 3,9%
Erzieher 14,4%
Verschiedene 16,8%

Die Gesamtzahl der in die USA immigrierten Wissenschaftler und Gelehrten ist nur ungenau bekannt: Wetzel (1964:1) schätzt sie auf etwa 1200, während Kent 1953: 13 auf eine etwas höhere Zahl von 1900 Erziehern („educators“) kommt, unter denen sich allerdings viele Lehrer befinden, nicht nur Forscher. Der Academic Assistance Council listete in seinen Karteien 1945 624 namentlich erfasste Wissenschaftler und Wetzel selbst kam im Rahmen seiner Dissertation 1964 auf 800 namentlich erfasste Personen.
Maurice R. Davie (1947: xvii) schätzt den Anteil von Flüchtlingen jüdischer Abstammung an der Gesamtzahl von etwa 130.000 Emigranten in die USA auf etwa 4/5 und den Anteil politischer Flüchtlinge auf etwa 5%. Das US Holocaust Memorial Museum kommt auf eine Schätzung von mehr als 110.000 jüdischen Emigrant/innen in die USA. Auch die Altersverteilung der Emigranten lässt sich aufgrund von Zahlen des US Immigration and Naturalization Service gut abschätzen (zit. aus Bach 1962: 93)

Bis 1930: Altersanteile v. Immigranten in die USA insg. (aus allen Ländern, Angaben in Prozenten)
Zum Zeitpunkt der Immigration in die USA unter 16 Jahren 16-44 bzw. 1939 bis 45 Älter als 44 Jahre (bzw. 1939-40 > 45)
1901-1910 12% 83% 5%
1911-1920 14,2 78,8 7
1921-1930 17,6 73,2 9,2
1930-1934 17,4 70,5 12,1
1935-1939 16,3 66,5 17,1
1940-1944 14,0% 62,4% bis 44 Jahre alt 23,6%
Ab 1933: Altersanteile nur deutscher und österreichischer Immigranten in die USA
1933-1937 16,3% 67,6 16,1
1938-1939 16,6 61 22,4
1939-1940 14,3 58,2% bis 45 Jahre alt 27,5% älter als 45
Spätere Zahlen nur für deutsche und österreichische Emigranten bis 1945 sind nicht verfügbar; für Zahlen ab 1946 siehe Scientific Manpower from Abroad. United States Scientists and Engineers of Foreign Birth and Training (Washington, D.C.: National Science Foundation, 1962)
Obige Zahlen sind entnommen aus Davie 1947: 39, Kent 1953 bzw. Bach 1962: 93



In der auf unserer website als json-file für die weitere Analyse in Palladio verfügbaren Liste mit 7.871 Emigranten, die im Biographischen Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933-1945 verzeichnet und in unsere Datenbank integriert sind, werden 1.256 Emigranten mit Exilland USA aufgelistet, darunter
616 Professoren,
81 Naturwissenschaftler,
73 Mediziner,
usw. mit jeweils mehreren Dutzenden von Personen für einzelne Disziplinenfelder,
aber nur 8 Künstler, welche somit von unserer Datenbank nur sehr unzureichend abgedeckt werden.
Für letztere gibt es aber andere, auf die Emigration von bildenden Künstlern, Literaten u.a. Kunstschaffenden spezialisierte Handbücher und Lexika, die von uns nicht ausgewertet wurden (zur künstlerischen Emigration siehe beispielsweise Middell & Dreifuss (Hrsg.) 1979, Möller 1984, Stefan (Hrsg.) 1990, Böhne & Motzkau-Valente (Hrsg.) 1992 sowie div. de Gruyter-Handbücher und Lexika zu emigrierten Literaten, Schauspielern und Regisseuren, bildenden Künstlern, Architekten, Presseleuten usw.). Auch die Physik, Mathematik und Biologie, die Medizin, die Sozialwissenschaften, die Kunstgeschichte u.a. Disziplinen sind bereits gut untersucht und werden in dieser website in separaten Artikeln unter Angabe weiterführender Spezialliteratur zu jeder dieser Disziplinen behandelt (zur Physiker-Emigration in die USA siehe beispielsweise Holton 1983, 1984, Stuewer 1984, Fischer 1991; zur Medizin Pearle 1984, Kroener 1989, Uhlendahl et al. 2021; zur Sozialwissenschaft Riemer 1959, Hughes 1975, Sprondel 1981, Krohn 1987; zu Juristen in den USA: Stiefel & Mecklenburg 1991, usw.)
Fünf berühmte Emigranten aus der Sozialwissenschaft (Franz L. Neumann), Literaturwissenschaft (Henri Peyre), Kunstgeschichte (Erwin Panofsky), Psychologie (Wolfgang Köhler) und Theologie (Paul Tillich) veröffentlichten schon 1953 in einem interdisziplinären Sammelband über The Cultural Migration ihre jeweiligen Eindrücke und Erfahrungen mit Emigration und Exil ( Crawford 1953). Während eines zweijährigen Aufenthaltes in den USA 1952-54 führte Helge Pross Gespräche mit etwa 40 Zeitzeugen der Emigration durch, die in seine frühe monographische Studie zur deutschen akademischen Emigration in die USA Eingang fanden (Pross 1955). Etwa 50 weitere wurden Anfang der 1960er Jahre für eine Sendereihe von Radio Bremen interviewt (siehe Bach 1962). Gemäß dem in unserer website verfolgten prosopographischen Ansatz werden wir hier auf diese und weitere berühmte Fälle wie etwa den von Albert Einstein (1879–1955), für den Abraham Flexner (1866–1959), der Direktor des neugegründeten Princetoner Institute for Advanced Study ebenso wie für den Kunsthistoriker Ernst Panofsky und den Mathematiker Kurt Gödel (1906–1978) attraktive Positionen als Permanent fellow ohne Lehrverpflichtung schuf, den Sommerfeld-Schüler Hans Albrecht Bethe (1906–2005), der in den USA zum Doyen der theoretischen Kernphysik wurde (vgl. Bachmann 1962: 30ff.) oder die Dozierenden an der in New York eigens für Emigranten gegründeten University in Exile nicht näher eingehen (vgl. die am Ende angegebenen webpages mit links zu biographischen Artikeln).



Migration nach 1945 – “Operation Paperclip”



Auch nach Ende des 2. Weltkriegs migrierten weiterhin Wissenschaftler und Techniker in die USA. Eine gute quantitative Übersicht dazu bietet der 1962 von der National Science Foundation herausgegebene Bericht Scientific Manpower from Abroa [nachfolgend abgekürzt zitiert als NSF 1962], der auf Daten des Us Immigration and Naturalization Service basiert, die von 1945 bis 1948 noch etwas unscharf sind, danach aber sehr zuverlässige Aussagen über die Gesamtzahl und Zusammensetzung der damals aus den verschiedensten Gründen in die USA immigrierten Wissenschaftler und Ingenieure bietet.
Seit einer von Präsident Truman am 22. Dez. 1945 erlassenen Direktive fanden bis 30. Juni 1948 insg. 40.324 Vertriebene Einlass in die Vereinigten Staaten. Unter diesen befanden sich circa 1.600 zwischen 1945 und 1949 trotz NS-Belastung in der „Operation Paperclip“ verdeckt in die USA eingeschleuste und später dann auch eingebürgerte Spezialisten für militärisch relevante Forschungsgebiete wie Raketenforschung oder Kernphysik (siehe dazu Bower 1987, Jacobsen 2014). Alleine Ende 1945 kamen über 100 solcher Spezialisten in das neugegründete Rocket Research Center in Fort Bliss, Texas) sowie allein von Mitte 1947 bis Mitte 1948 weitere 98 Ingenieure und 71 Chemiker (NSF 1962: 2-3). Ingenieure und Chemiker blieben auch in den Folgejahren die quantitativ größten Gruppen von Immigranten. 1949-61 kamen insg. 32.905 Ingenieure (inkl. 132 „engineering instructors“), was bereits 75,6% der insg. in diesem Zeitraum eingewanderten Wissenschaftler und Techniker ausmachte, verglichen mit 5.994 Chemikern (13,8%), 1609 Agrikultur-Forscher (3,7%) und 1089 Physikern (2,5%). Ergänzt werden diese Zahlen noch um die seit 1952 separat geführten „Professors and Instructors“, jährlich zwischen 20 und 127 schwankend. Das sind sehr hohe Zahlen, aber sie beziehen sich auf Einwanderer aus allen Ländern, worunter Deutsche und Österreicher wiederum nur 13,5 bzw. 5,7% ausmachten (vgl. die Länderstatistik in NSF 1962: 7ff.). Insgesamt machten die aus aller Herren Länder in die USA eingewanderten Naturwissenschaftler und Techniker jedes Jahr nur zwischen 1949 und 1961 nur zwischen 1,3 und 8,1% der jährlichen Absolventenzahlen der gleichen Fächer aus (NSF 1962: 4f.), so dass keinesfalls von einer Verdrängung einheimischer Fachkräfte durch Eingewanderte gesprochen werden kann, eher von einer Ergänzung, die auch der erwähnte NSF-Bericht feststellt:
„Migrations to the United States have generally brought valuable numbers of scientists and persons capable of being trained as scientists. In this respect, recent political upheavals, however regrettable they may be in other contexts, have had a beneficial effect on the American scientific manpower pool. The intellectual cross-fertilization which has resulted from the influx of foreign scientists to the United States has, in general had a broadening influence on the outlook of both immigrant and native-born scientists alike” (NSF 1962: 18).



Fazit



Insgesamt hat die Wissenschaft in den USA vom Einströmen einer so großen Zahl erfahrener und oft international anerkannter Forscher massiv profitiert (Wissenstransfer). Einige Wissensfelder wie etwa die Kunst- und Kulturgeschichte, die schon vor 1933 durch Migranten aus Europa ins Leben gerufen worden waren, erfuhren ein großes Wachstum, andere Felder wie etwa die Kernphysik, die schon vor 1933 Forschungsschwerpunkt amerikanischer Experimentatoren war, wurden durch europäische Emigranten zusätzlich befruchtet, die sich dann z.T. auch am Bau der amerikanischen Atombombe beteiligten. Neugegründete Institutionen wie etwa die University in Exile bzw. die New School for Social Research in New York, wurden Nukleus der international führenden amerikanischen Sozialwissenschaft (Riemer 1959, Hughes 1975, Sprondel 1981, …). 12 Nobelpreisträger flohen nach 1933 in die USA (aufgelistet z.B. in Weiner 1969). Der amerikanische Who‘s Who listete in seiner Ausgabe von 1944/45 die Namen von 103 Akademikern auf, die vor den Nationalsozialisten aus Europa geflüchtet waren (aufgelistet in Davie 1947 App. C). Wie Walter Cook (1888–1962), Chairman am Institute of Fine Arts der New York University, es formulierte: “Hitler is my best friend. He shakes the tree and I collect the apples.’’ (zit. nach Panofsky in Crawford (Hrsg.) 1953: 95; vgl. Medawar & Pike 2000 über “Hitler’s Gift”).

[HF und KH]




Verwendete Literatur)



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Bach, Irmgard (Interviewerin) Auszug des Geistes. Bericht über eine Sendereihe [von Radio Bremen], Bremen: Heye, 1962.
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Bower, Tom: Verschwörung Paperclip. NS-Wissenschaftler im Dienst der Siegermächte, München: List, 1988 (orig. 1987 unter dem Titel The Paperclip Conspiracy).
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Ausgewählte Webseiten)




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