Emigration und Exil von Wissenschaftlern und Ingenieuren 1930-1950


Chemie



Inhaltsverzeichnis

1. Forschungsstand
2. Status der Chemie in Deutschland bis 1933
3. Status der Chemie während der NS-Zeit
Emigration der Chemiker
Verhalten der Institutionen und Folgen für die chemische Forschung
4. Emigrierte Chemiker im Ausland
Zielorte
Einfluss auf die Chemie im Ausland
5. Remigration
6. Fazit
Zitierte Literatur


1. Forschungsstand



Über den Forschungsbereich der Chemie im Nationalsozialismus existieren mehrere Monographien und Aufsätze. Hierbei wird allerdings häufig eher die Arbeit der Chemiker, die in Deutschland geblieben sind, in den Fokus gestellt. Eine Ausnahme stellen die Publikationen der Wissenschaftshistorikerin Ute Deichmann dar. Diese beschäftigte sich äußerst ausführlich mit den exilierten Chemikern, wobei sie detaillierte Zahlen und Ereignisse darlegt. Auch über die chemische Industrie während des NS-Regimes liegen Forschungen vor. Sehr bekannt auf diesem Gebiet ist die Monographie „The Crime and Punishment of I.G. Farben“ von Jospeh Borkin (1979). Im Allgemeinen handelt es sich um einen gut erschlossenen Forschungsbereich, wenn auch der Bereich im Vergleich zur massiven Forschung zur Emigration der Physiker lange Zeit als vernachlässigt galt (Carroll 1983, S. 190).



2. Status der Chemie in Deutschland bis 1933



Bis 1933 und vor allem während der Weimarer Republik wurde Deutschland sehr häufig als führende Wissenschaftsnation angesehen. Die chemische Forschung war in Deutschland zur damaligen Zeit sehr innovativ und erfreute sich gerade in der physikalischen Chemie und der Biochemie großem Erfolg. Auch die chemische Industrie war weltführend. In den Jahren vor dem Aufstieg des Regimes waren an Deutschland insgesamt 6 Nobelpreise der Chemie verliehen worden. 4 der 6 Nobelpreisträger waren jüdisch oder jüdischer Abstammung. Auch die Gründung neuer und innovativer Forschungsinstitute ging auf später rassistisch-verfolgte Personen zurück (Deichmann 2002, S. 1266). In den entsprechenden Abteilungen der Kaiser-Wilhelm-Institute spiegelt sich auch ein sehr hoher Anteil an Juden wider. So hatten 25 % der Mitarbeiter in der Abteilung für Elektrochemie, 25 % der Mitarbeiter in der Abteilung für Biochemie, 17 % der Mitarbeiter in der Lederforschung und 13 % der Mitarbeiter in der klassischen Chemie einen jüdischen Hintergrund. Der Gesamtdurchschnitt in den KWIs betrug 8 % (Kahlert 2001, S. 64).

Der Grund, warum so viele Wissenschaftler dieses Fachbereiches einen jüdischen Hintergrund hatten, ist, dass gerade die Fachbereiche physikalische Chemie und Biochemie für diskriminierte Bevölkerungsgruppen (zu dieser Zeit waren das vor allem Juden) offenstanden. Der Mediziner-Beruf und auch die naturwissenschaftlichen Fakultäten war bereits seit längerem nicht mehr so starken Restriktionen unterlegen wie andere Berufszweige. So waren viele Juden ermutigt in diesen Berufszweig einzusteigen (Nachmansohn 1988, S. 315). Oft wurde begleitend zum Medizin-Studium ein chemisches bzw. biochemisches Studium durchgeführt. Die Nachwuchswissenschaftler engagierten sich schon früh in der Forschung (Deichmann 2007, S.122 – 124). Sowohl der Fachbereich Biochemie als auch der Fachbereich physikalische Chemie waren noch nicht stark etabliert und auch noch nicht gut ausgestattet, weshalb sie im Allgemeinen weniger attraktiv als z.B. die organische oder die anorganische Chemie waren. Dies machte den Einstieg für eine Minderheit deutlich leichter. Gerade die Biochemie gewann stetig an Bedeutung, 1932 wurde sie zum Prüfungsfach erhoben und florierte bis 1933 hauptsächlich in Deutschland (Deichmann 2002, S. 1366). In der physikalischen Chemie hatte Deutschland ebenfalls einen sehr hohen Status und wurde als ein Gründungsland der physikalischen Chemie angesehen (Servos 1990, S. 53).

Die chemische Industrie in Deutschland war seit dem 19. Jahrhundert von großer Bedeutung. 1916 hatten sich die großen deutschen Chemieunternehmen zur I.G. Farben zusammengeschlossen (Plumpe 1983, S. 564f.). In der chemischen Industrie herrschte in der Weimarer Ära wohl kein allzu stark ausgeprägter Anti-Semitismus, so dass die Anzahl an jüdischen Chemikern in der Industrie recht hoch war (Kahlert 2001, S. 535).



3. Status der Chemie während der NS-Zeit



Emigration der Chemiker



Vor 1933 war die Migration von Chemikern sehr gering ausgeprägt (Carroll 1983, S. 195). Auf Grund der starken universitären Förderung und der chemischen Industrie waren die Karrierechancen für Chemiker in Deutschland sehr gut. Es gab zwar vereinzelte Migrationen, die jedoch als Einzelfälle anzusehen sind. Allerdings hatte es in den 1920ern eine verstärkte Migration von deutschen Industrie-Chemikern in die Vereinigten Staaten gegeben (Carroll 1983, S. 200).

Die Chemie in Deutschland erfuhr durch die Entlassung von v.a. jüdischen Kollegen einen massiven Einschnitt. Besonders die Verluste in Quantenchemie, Biochemie und physikalische Chemie schadeten dauerhaft der bis dato geltende Weltgeltung der Chemie in Deutschland. Insgesamt verloren 1/3 der Wissenschaftler in den interdisziplinären Fächern ihre Stellung und ¼ der Wissenschaftler in der organischen und anorganischen Chemie (Deichmann 2002, S. 1366). Ute Deichmann (2001, S. 118-125) bietet eine detaillierte tabellarische Übersicht zur Entlassung und Emigration von 130 Chemikern und Biochemikern nach 1933. 123 der insgesamt 141 entlassenen und/oder emigrierten Chemiker bzw. Biochemiker wurden aus rassischen Gründen betroffen (als Juden, von jüdischer Abstammung, mit einer Jüdin oder Halbjüdin verheiratet – ibid., S. 116). Insgesamt waren an den Hochschulen und dem KWI 1933 535 (Bio-)Chemiker tätig. Hierbei mitgezählt sind alle habilitierten (Bio-)Chemiker aller deutschen und österreichischen Universitäten (einschließlich der deutschen Universität in Prag) und 8 technischen Hochschulen, sowie auch promovierten Mitglieder der KWIs. Im Durchschnitt verlor jede Hochschule 18,55 % der (Bio-)Chemiker-Belegschaft.

Die Verluste der verschiedenen Universitäten variierten untereinander jedoch stark:

• Die Universität Berlin hatte 21 Entlassungen (53,8 % der (Bio-)Chemiker-Belegschaft)
• Die technische Hochschule Berlin hatte 13 Entlassungen (48,1 % der (Bio-)Chemiker-Belegschaft)
• Die Universität Wien hatte 10 Entlassungen (40 % der (Bio-)Chemiker-Belegschaft)
• Die Universität Frankfurt hatte 8 Entlassungen (42,1 % der (Bio-)Chemiker-Belegschaft)
• Die Universitäten Halle, Greifswald, Jena, Rostock, Gießen, Münster und Innsbruck hatten keine (Bio-)Chemiker entlassen
• Alle anderen Universitäten hatten 1 – 3 Entlassungen von (Bio-)Chemikern, wobei dies an manchen kleineren Universitäten bis zu 33,3 % der gesamten Belegschaft an (Bio-)Chemikern entsprach.

Sichtbar ist hier, dass vor allem die Universitäten Berlin und Frankfurt hohe Verluste verzeichnen mussten. Da diese weniger Ressentiments bei der Immatrikulierung von Studenten und Dozenten mit jüdischem Hintergrund hatten. Sehr wenige Entlassungen zeigen hier die konservativen Universitäten auf, wie z.B. Rostock (0 Entlassungen) und Tübingen (1 Entlassung). Diese hatten sich schon vor 1933 als „judenfrei“ gebrüstet. Die KWIs erlitten vor allem in den Abteilungen für physikalische Chemie und Elektrochemie einen schweren Personalverlust. Hier handelte es sich vor allem um Assistenten und wissenschaftliche Mitarbeiter, da die jüdischen Mitarbeiter meist länger in den Laboratorien verblieben, weil diese es schwerer hatten, eine Professur zu erhalten (Deichmann 2001, S. 108f). Insgesamt verloren zwischen 1933 und 1939 129 der 535 (Bio-)Chemiker ihre Position, das sind etwa 24,1 % der Gesamtzahl an (Bio-)Chemikern (Deichmann 2001, S. 105), die letzte Entlassung eines jüdischen Universitätsmitgliedes erfolgte 1938 (Deichmann 2001, S. 76). 108 entlassene (Bio)Chemiker emigrierten. Das sind 20,1 %. Von den 108 Emigranten sind 12 freiwillig zurückgetreten. So sind insgesamt 141 (Bio-)Chemiker (26,3 %) aus ihren Posten verdrängt worden (Deichmann 2001, S. 105). 123 der 141 Entlassungen (insgesamt 87, 23 %) erfolgten aus rassistischen Gründen. Betreffende waren meist Juden, hatten eine jüdische Abstammung oder waren mit einem jüdischen Partner verheiratet. In einem Fall wurde eine Entlassung auch wegen einer Halbjüdin als Ehefrau vorgenommen. 98 der aus rassistischen Gründen entlassenen (Bio-)Chemiker emigrierten in der darauffolgenden Zeit. Einige weitere begingen Selbstmord oder wurden vom NS-Regime ermordet. Einige Schicksale sind ungeklärt (Deichmann 2001, S. 116f.). 18 Entlassungen erfolgten aus politischen Gründen, von den 18 Entlassenen emigrierten 10, eingeschlossen die die sich bereits im Ausland aufhielten und nicht zurückkamen (Deichmann 2001, S. 133). Die große Entlassungswelle „nichtarischer“ Wissenschaftler erfolgte 1935, für die die nicht schon aus politischen Gründen entlassen wurden. Von den 18 kann man tatsächlich nur bei 6 von wirklich rein politischen Gründen ausgehen, die anderen 12 galten zusätzlich als „nicht-arisch“ und wurden als „politisch untragbar“ bereits vor 1935 entlassen. Diese konnten sein: Widerstand gegen die Entlassungspolitik des NS-Regimes, Verweigerung der Habilitation von glühenden Anhängern der NSDAP und das „Gelten als Judenfreund“ (Deichmann 2002, S. 1367).

Auch unter den verschiedenen akademischen Rängen und Ämtern variierten die Emigrationsquoten unter den (Bio)Chemikern:

• Die Nicht-habilitierten (Bio)Chemikern, welche zumeist an den KWIs arbeiteten: 31,3 % (= 26 Emigrationen).
• Die nicht-verbeamteten und außerplanmäßigen Professoren: 22,5% (= 26 Emigrationen).
• Die ordentlichen Professoren: 14,7 % (= 21 Emigrationen).
• Die Honorarprofessoren: 33,3 % (= 5 Emigrationen).
• Die verbeamteten und außerplanmäßigen Professoren: 7,1% (= 2 Emigrationen).

Im Allgemein wurden Juden deutlich seltener in das verbeamtete Professorentum aufgenommen, weshalb sie bereits vor dem NS-Regime bei den verbeamteten Professoren eher dürftig vertreten waren.

Auch in den einzelnen Teildisziplinen sind große Unterschiede zwischen den personellen Verlusten durch Emigration:

• Die physikalische Chemie: 33 % (= 45 Emigrationen).
• Die medizinische Biochemie: 27,6 % (= 18 Emigrationen).
• Die Pharmakologie: 23,5 % (= 4 Emigrationen).
• Die organische Chemie: 17,8% (= 30 Emigrationen).
• Die anorganische Chemie: 8,8 % (=7 Emigrationen).
• Die technische Chemie: 8,6% (= 4 Emigrationen).

(Deichmann 2001, S. 112 – 114)

Auffällig sind die hohen Verluste in dem klassischen Gebiet der organischen Chemie und die niedrigen Verluste in dem interdisziplinären Fach der technischen Chemie.

In der chemischen Industrie kam es auch zu massiven Entlassungen, wobei diese meist etwas später erfolgten. Die Firma IG Farben hatte sich wohl zu Beginn gesträubt. 1937 wurde jedoch 1/3 des gesamten Aufsichtsrates auf Betreiben des NS-Regimes entlassen (Borkin 1979, S. 72). Dennoch konnten sich jüdische Chemiker in der Industrie deutlich länger in Deutschland auf ihren Positionen halten, da die IG Farben eng mit den Planungsbehörden zusammenarbeitete (Vonderau 1994, S. 1). Auch nach dem Anschluss von Österreich kam es zu Entlassungswellen. So wurde die Belegschaft des größten österreichischen Chemieunternehmens Skoda radikal umgestaltet. Jüdische Mitarbeiter wurden auch hier gegen „arische“ Techniker ausgetauscht (Borkin 1979, S. 92).

Auch nach 1938 fanden noch Emigrationen statt. Doch hier sind es vor allem Emigrationen aus den Ländern, welche ihre Souveränität an Deutschland verloren hatten (Österreich, Tschechoslowakei, Ungarn etc.).

Verhalten der Institutionen und Folgen für die chemische Forschung



Die von den Nürnberger Gesetzten nicht betroffenen Chemiker und Biochemiker in Deutschland assimilierten sich bereitwillig in das NS-Regime und sorgten mit Eifer für die Durchsetzung selbiger Gesetze. Bereits vor dem NS-Regime waren Juden häufig aus der Herausgeberschaft von Fachzeitschriften herausgehalten worden. Ausschlüsse und Entlassungen erfolgten sehr schnell (Deichmann 2002, S. 1365f). Sowohl Professoren als auch Studenten zeigten gegenüber Kollegen und Kommilitonen kein Mitgefühl. Bei den Studenten machte sich ein besonders radikaler Antisemitismus bemerkbar. Als ein „nichtarischer“ Wissenschaftler in einer Fachzeitschrift veröffentlichte, wurde er beim NS-Regime denunziert (Deichmann 2002, S. 1372f.).

Der mangelnde Widerstand unter den (Bio-)Chemikern lässt sich auch teilweise auf die hohe Akademikerarbeitslosequote zurückführen, welche zu dieser Zeit herrschte. So rückten junge nicht-betroffene Akademiker schnell auf die freigewordenen Stellen nach und profitierten von der NS-Entlassungspolitik. Gerade diese jungen (Bio-)Chemiker zeigten sich als begeisterte Anhänger des NS-Regimes (Deichmann 2001, S. 75).

Die weitgehende Assimilierung der (Bio)Chemiker an das NS-Regime zeigte sich daran, dass zwischen 1933 und 1945 insgesamt 53 % der verbliebenen (Bio-)Chemiker der NSDAP und 7,2 % der (Bio-)Chemiker der SS beitraten. 59 der 93 ernannten Ordinarien der (Bio-)Chemie waren NSDAP-Mitglieder. 28 (Bio-)Chemiker waren bereits vor 1933 NSDAP-Mitglieder gewesen. 11 von diesen erhielten noch bis 1945 ein Ordinariat (4 davon gehörten auch zur SS) (Deichmann 2002, S. 1373).

Wie auch in der Physik waren einige dem NS-Regime nahestehende Chemiker bestrebt eine „Deutsche Chemie“ bzw. eine „arische Chemie“ zu begründen. Wie diese genau zu definieren sei, darüber kam keine Einigkeit zustande. Die eine Richtung, beschrieben von dem Chemiker Conrad Weygand, differenzierte zwischen eine deutschen und einer westeuropäischen Naturwissenschaft. Dabei wurde ein Absolutheitsanspruch auf wahre Wissenschaft nicht gestellt. Die andere Richtung unterschied zwischen einer wahren „arischen“ Wissenschaft, denn nur „Arier“ könnten Wissenschaft hervorbringen und einer falschen „semitisch-geprägten“ Wissenschaft (Vonderau 1994, S. 165). Die „Deutsche Chemie“ bleib aber in ihrer Ausprägung nur auf einen sehr geringen Kreis begrenzt (Vonderau 1994, S. 196). Auch bei den Größen des NS-Regimes konnte die „Deutsche Chemie“ keine ausreichende Unterstützung gewinnen und übte über kurz oder lang weder in den Universitäten noch in der wirtschaftlichen Zusammensetzung einen nennenswerten Einfluss aus (Kahlert 2001, S. 534). Man praktizierte die rücksichtslose Vertreibung der jüdischen Kollegen, aber es wurden nicht wie in der Physik ganze Forschungsbereich verbannt. (Deichmann 2002, S. 1372).

Das NS-Regime interessierte sich weniger für die Grundlagenforschung der Chemie, sondern eher für die praktische Chemie. In diesem Rahmen wurde der chemischen Industrie in Deutschland weitgehende ideologische Freiheiten gewährt. Die Hauptaufgabe der chemischen Industrie war es durch die Entwicklung von Ersatz-Synthese-Stoffen eine schnellstmögliche Unabhängigkeit Deutschlands von Rohstoffimporte zu erwirken (Vonderau 1994, S. 1). Dahinter war auch die ideologische Ausrichtung der (v.a. Industrie-)Chemiker zweitrangig. Auch die Weiterbeschäftigung von Juden in der Industrie wurde erst einmal toleriert. Später wurden in der chemischen Industrie KZ-Häftlinge als Zwangsarbeiter eingesetzt (Vonderau 1994, S. 5).

Die Verluste in den von der jüdischen Bevölkerung häufig praktizierten interdisziplinären Fachbereichen physikalische Chemie und Biochemie waren sehr groß. Deutschland verlor wichtige Zentren der physikalischen Chemie und einen großen Teil seiner führenden Biochemiker. Auch die Forschungsbereiche der Polymerchemie und der Quantenchemie wurden langfristig weit zurückgeworfen. In der Literatur spricht man vom Niedergang der Biochemie, Quantenchemie und physikalischen Chemie in Deutschland. Die organische und anorganische Chemie in Deutschland erfuhr ebenfalls harte Personalverluste, jedoch wird von keinem massiven Einschnitt im wissenschaftlichen Geschehen berichtet. Jüdische Wissenschaftler hatten in diesen eher klassischen Fachbereichen der Chemie stärkere Diskriminierung erfahren und waren seltener auf hohe Positionen gekommen. So blieben die bedeutendsten deutschen Vertreter dieser Richtungen in Deutschland (Deichmann 2002, S. 1368f.).

Der Verlust von Universitätspersonal wirkte sich auch auf den Lehralltag an den Hochschulen aus. So entfielen Forschungs- und Lehrveranstaltungen. Dies wurde allerdings größtenteils durch die erzwungene Reduzierung der Studentenzahlen kompensiert, so dass es zu keinen signifikanten Ausfällen in der Lehre kam (Kahlert 2001, S. 534).

Nach der großen Akademikerarbeitslosigkeit herrschte nun Akademikermangel (Kahlert 2001, S. 73). Die einst in der Chemie führende Nation Deutschland gelangte durch den personellen Verlust ins Hintertreffen, welcher bis heute nicht ausgeglichen ist (Kahlert 2001, S. 99). 1939 gingen schließlich große Teile der verbliebenen chemischen Forschung in der Kriegsforschung auf (Deichmann 2002, S. 1375).

Auch zeigte ein starker Rückgang bei der Patentanmeldung eine zunehmend passiv werdende Forschungstätigkeit der in Deutschland verbliebenen Chemiker auf. Dies wird v.a. auf die totalitäre Politik des NS-Regimes zurückgeführt (Kahlert 2001, S. 534).



4. Emigrierte Chemiker im Ausland



Zielorte



Ca. 60 % der emigrierten (Bio)Chemiker wandte sich Richtung Westeuropa. Großbritannien nahm etwa 1/3 der Emigranten bei sich auf. Doch sehr viele blieben nicht in ihrem 1. Emigrationsland. Langfristig zog es die meisten (Bio)Chemiker in die USA. Bei der Reise von Großbritannien in die USA unterstützte die Hilfsorganisation Academic Assistance Council (später Society for the Protection of Science and Learning). Die 2. Emigrationswelle in Folge der territorialen Ausdehnung von Deutschland ging sehr oft direkt in die USA (Deichmann 2002, S. 1369). Insgesamt waren 20 % der in die USA emigrierten Wissenschaftler Chemiker (Vonderau 1994, S. 1). Gemäß dem biographischen Handbuch der Emigration wählten von 299 Emigrierten etwa 182 die USA als Zielort, wobei ein paar auch erst nach dem Krieg ankamen. In Großbritannien landeten insgesamt 91 Emigranten, wobei die wenigsten Großbritannien als 2. oder 3. Zielort wählten. Für die überwiegende Mehrheit war Großbritannien die erste Etappe des Exils. Auch nach Palästina zog es ein paar Emigranten (45). Weniger frequentiert waren die Türkei, Shanghai, Australien etc. (Röder, Werner & Herbert A. Strauss (Hrsg) 1980-1983 (Reprint 1999)).



Einfluss auf die Chemie im Ausland



Der berufliche Erfolg, den die Emigranten als Chemiker im Ausland hatten und der damit von ihnen ausgehende Einfluss auf die Wissenschaft im Gastland, hing von mehreren Faktoren ab. So spielten u.a. Fachbereich, Alter, bereits erworbene Prestige der Chemiker und auch der Zustand der Forschung im Gastland eine wichtige Rolle. (Deichmann 2001, S. 197).

70 % der exilierten Chemiker schafften es, im Ausland eine Stelle als Chemiker zu erlangen. Insgesamt 50 % erhielten akademische Stellen und weitere 20 % Stellen in der chemischen Industrie. Ältere Chemiker, die es schwerer hatten, eine Anstellung zu finden, litten im Exil häufig unter einer drückenden existenziellen Not.

In den USA, wo bereits etablierte Universitäten vorherrschten, hing der jeweilige Erfolg in erster Linie vom Fachgebiet ab. So waren Akademiker aus dem Ausland, welche in Konkurrenz zu den heimischen Wissenschaftlern treten konnten, eher nicht willkommen. Dagegen wurden Wissenschaftler mit bestimmten Spezialisierungen, welche deswegen keine Konkurrenz, sondern eher ein neues Wissensgebiet in die Staaten brachten, deutlich positiver gesehen.

Auch in den USA war das Fachgebiet der Biochemie neu und in der Entwicklung. Die Biochemiker waren daher in den im Aufbau begriffenen Forschungsinstituten sehr willkommen (Carroll 1983 S. 196f). Deswegen weil die biochemischen Forschungsinstitute selbst in Deutschland noch wenig etabliert waren und es von daher ein geringeres Problem darstellte, das Institut bzw. den Forschungsbereich räumlich zu verlegen und sich in den USA eine eigene Nische zu erbauen (Deichmann 2002, S. 1369). Tatsächlich waren die Chemiker die größte Emigrationsgruppe unter den Wissenschaftlern, welche in die USA zogen (Carroll 1983, S. 190).

Bei der Biochemie kann man noch am ehesten von einem geglückten Wissenstransfer sprechen. Die Verbindung der deutschen Forschungstradition mit den sehr innovativen und praktisch orientierten Methoden in den USA (Deichmann 2001, S. 175) transformierte die praktisch-orientierte Biochemie in den Staaten in eine ernsthafte Wissenschaft. Theoretische und methodische Aufstellung wurden reformiert. Mit neuen Anregungen wurde der Weg zur Institutionalisierung geebnet (Deichmann 2007, S. 125).

Auch in der Polymerchemie, welche in den USA 1938 noch rein industriell orientiert war, während Deutschland bis weit in die 30er hinein eine führende Rolle in diesem Fachgebiet einnahm, wurde in den nächsten Jahren zu einem in den USA stark frequentierten Forschungsgebiet. Die USA holten schnell auf (Fischer 1991, S. 112f.).

Die physikalischen Chemiker hatten es deutlich schwerer (Deichmann 2001, S. 188f). Um die Jahrhundertwende waren noch viele US-amerikanische Studenten extra nach Deutschland gereist, um beim Begründer der physikalischen Chemie Wilhelm Ostwald in seinen Laboren in Leipzig die physikalische Chemie zu erlernen (Servos 1990, S. 60). Wilhelm Ostwald Schüler traten Professuren in Harvard, am MIT, an der Cornell, in Wisconsin, an der Stanford University und der Johns Hopkins University in Baltimore an (Servos 1990, S. 53). In den folgenden Jahren wurde die physikalische Chemie an den Universitäten in den USA etabliert und gefördert (Servos 1990, S. 99). Doch bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts war die physikalische Chemie in den USA der am stärksten wachsende Zweig in der Naturwissenschaft (Servos 1990, S. 56). Die USA hatten Deutschland schon vor dem Aufstieg des NS-Regimes überholt. Dennoch erhielten einige emigrierte physikalische Chemiker Posten an den Universitäten und in der chemischen Industrie.

Für Angehörige der klassischen Gebiete organische und anorganische Chemie war es fast unmöglich eine akademische Stelle zu finden. Die klassischen Fachgebiete der Chemie hatten bereits in den USA eine lange Tradition und waren stark etabliert. Die Konkurrenz zu den Einheimischen war sehr hoch zudem waren zum einen die bedeutendsten Chemiker dieser Fachbereiche in Deutschland geblieben (Deichmann 2001, S. 188); zum anderen stammten die klassischen Chemiker aus Deutschland ebenfalls aus sehr etablierten Institutsstrukturen, wodurch die Umstellung schwerer war (Deichmann 2002, S. 1369). Bei den Organikern erhielt nur ein einziger Emigrant eine akademische Stelle. Die anderen gingen zumeist in die chemische Industrie (Deichmann 2001, S. 188).

In Großbritannien nahmen die emigrierten Chemiker und Biochemiker in der folgenden Zeit eine wichtige Rolle in der Chemie und vor allem in der Biochemie ein. Hierbei waren vor allem die Schüler von Otto Meyerhof und Fritz Haber von Relevanz.

In den südöstlichen Exilländern wie die Türkei, Ägypten und Palästina gestaltete sich die Position der emigrierten (Bio-)Chemiker anders. In diesen Ländern waren sie maßgeblich am Aufbau ganzer Disziplinen und Universitäten beteiligt.

In Palästina (später Israel) stellten für die nächsten Jahrzehnte ein paar wenige habilitierte (Bio-)Chemiker, Studenten und nicht-habilitierte (Bio-)Chemiker den größten Teil der Chemiker an der neu gegründeten Hebrew University. Die Forschungsinstitute und die gesamte Disziplin waren damals noch rudimentär ausgestattet und wenig entwickelt. Die emigrierten Chemiker bauten hier die gesamte Disziplin auf, auch wenn Palästina bzw. Israel im Allgemeinen eher unbedeutende Chemiker anzog, hatten einige wenige großen Erfolg und erreichten eine hohe Beachtung als Chemiker (Deichmann 2001, S. 161 -164).

Auch in der Türkei wurde die Disziplin der (Bio-)Chemie erst durch die Emigranten aufgebaut und maßgeblich beeinflusst, vor allem im Bereich der Photochemie (Deichmann 2002, S. 1369). Wobei auch im Bereich der Chemie der Wissenstransfer in die Türkei, im Rahmen einer radikalen Neustrukturierung der türkischen Universitätslandschaft, massiv gefördert wurde (Erichsen 2002, S. 80f.). Auch Ägypten baute durch die Emigranten ihre Institute erst richtig auf (Deichmann 2002, S. 1369).



5. Remigration



Nur wenige Chemiker schlugen nach 1945 den Weg zurück nach Deutschland ein. Gemäß Marita Krauss insgesamt nur 6 (davon 2 aus der Türkei, einer aus Griechenland und einer aus Ägypten) (Krauss 2001, S. 83). Laut Ute Deichmann (2001, S. 483) kamen vier Chemiker als aktive Hochschullehrer zurück (Stefan Goldschmidt, Hans Kröplin, Georg M. Schwab sowie Walter Fuchs), das wären ca. 4% der nach 1933 emigrierten Chemiker; drei weitere kehrten erst nach Erreichen ihrer Altersgrenze nach Deutschland zurück (Fritz Paneth, Fritz Arndt und Alexander Schönberg), zum Teil auch aus finanziellen Gründen, weil ihnen im Ausland keine Pension gewährt wurde, die sie sich in Deutschland nach Wiedergutmachungsverhandlungen und zum Teil auch gerichtlichen Prozessen jedoch erstritten. Das Biographische Handbuch zählt jedoch 9 Rückkehrer (Röder, Werner & Herbert A. Strauss (Hrsg) 1980-1983 (Reprint 1999)).

Wie in den anderen Disziplinen auch waren die Kollegien der chemischen Institute in Deutschland nicht in der Lage sich mit dem Geschehenen auseinanderzusetzten. Über die Vergangenheit der im NS-Regime aktiven Chemiker wurde lieber geschwiegen oder ihre Beteiligung geleugnet, auch wenn es um die Zwangsarbeit und Massenvernichtung im Rahmen des Holocaust durch die chemische Industrie ging (Deichmann 2002, S. 1377).

1952 waren 53 % der Ordinarien, 70 % der Extraordinarien und 71 % der außerplanmäßigen Professoren an den chemischen Fakultäten der BRD ehemalige NSDAP-Mitglieder und unter den Professoren der DDR 36 % (Deichmann 2001, S. 443).

Viele (Bio-)Chemiker hatten im Ausland Stellen mit ausgezeichneten Arbeitsbedingungen gefunden und sahen daher keinen Grund, in das zerstörte Deutschland zurückzukehren. Auch das Ausbleiben der Rückrufe an die deutschen Universitäten (insgesamt wurden nicht einmal 5 ausgesprochen) hielt ebenfalls viele von einer Rückkehr ab (Remigration). V.a. die Emigranten in der Türkei hatten Rückrufe erhofft, aber sie erhielten meist keine. Von den Biochemikern kehrte kaum jemand zurück (Deichmann 2001, S. 480 – 483). Eine Ausnahme war Mitja Rapoport (ein jüdischer Arzt und Biochemiker). Dieser war 1937 aus Österreich in die USA emigriert. Trotz Einbürgerung in den USA war er auf Grund seines Engagements in der kommunistischen Partei in der McCarthy-Ära 1950 zur Emigration nach Europa gezwungen, wo er nach einem gescheiterten Remigrationsversuch in Österreich eine Stelle in Ost-Berlin an der Charité antrat. Dort erlangte er ein hohes Prestige (Reiter 2006, S. 197f.). Ferner gab es laut Deichmann (2001, S. 483) vereinzelt auch Chemiker, die in NS-Deutschland als Halbjuden verfolgt worden waren, aber überlebten, die sich dann aber aus Frustration über die im Nacchkriegsdeutschland weiterhin verbreitete NS-Mentalität Ende der 1940er Jahre zur Emigration entschlossen (Hartmut Kallmann und Bernhard Witkop).





6. Fazit



Unter den wissenschaftlichen Disziplinen in Deutschland hatte die Chemie mitunter am stärksten unter der Vertreibung von „nicht-arischen“ und „politisch-nichttragbaren“ Wissenschaftlern gelitten. Berlin verlor einen Großteil seines Kollegiums. Auch andere Hochschulen und die chemische Industrie litten unter dem Wegfallen der Fachkräfte. In den folgenden Jahren sollte nach einem Chemiker-Überschuss ein Mangel an Chemikern herrschen. Überdies verlor Deutschland seine wichtigsten Zentren der physikalischen Chemie und Biochemie, in denen Deutschland einst Pionier gewesen war. Für die klassischen Fachgebiete war der Einschnitt wenige gravierend. In den folgenden Jahren wurden wichtige Zentren der Biochemie von Deutschland in die USA verlegt, während die physikalischen Chemiker, die Organiker, und die Anorganiker deutlich größere Probleme hatten in die bereits etablierten Forschungsgebiete einzusteigen. In Palästina, Ägypten und der Türkei trugen die Exilanten maßgeblich zum Aufbau der Universitäten und Forschungsbereiche bei, da sich die Entwicklung in diesen Ländern noch am Anfang befand.

Das NS-Regime vertrieb in der Chemie nicht nur einige wichtige Chemiker, sondern war für die Regression einer ganzen Disziplin verantwortlich. Die Biochemie sollte in den nächsten Jahren obgleich oder vielleicht auch wegen ihrer Vertreibung in v.a. den USA und Großbritannien zu einer der weltweit bedeutendsten Disziplinen der Naturwissenschaft werden. Dabei sollte Deutschland nur eine nebensächliche Rolle in diesem Prozess spielen. Der Schaden welche durch die Handlungen der Nationalsozialisten der (Bio)Chemie in Deutschland zugefügt wurde, hat Deutschland um Jahre, wenn nicht um Jahrzehnte zurückgeworfen.



[RD]


Zitierte Literatur



Borkin, Joseph: Die unheilige Allianz der I.G. Farben. Eine Interessengemeinschaft im Dritten Reich, Frankfurt / New York: Campus Verlag, 1979.
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Deichmann, Ute: Flüchten, Mitmachen, Vergessen. Chemiker und Biochemiker in der NS-Zeit, Weinheim [u.a.]: Wiley-Vch, 2001.
Deichmann, Ute: Chemiker und Biochemiker in der NS-Zeit. In: Angewandte Chemie 114 (2002): S. 1365 – 1383.
Deichmann, Ute: „I detest his way of working“. Leonor Michaelis (1875-1949), Emil Abderhalden (1877-1950), and Jewish and non-Jewish Biochemists in Germany. In: Ulrich Charpa & Ute Deichmann (Hrsg.): Jews and Sciences in German Contexts. Case Studies from the 19th and 20th Centuries (= Schriftreihe wissenschaftlicher Abhandlung des Leo Baeck Institutes 72), Tübingen: Mohr Siebeck, 2007: S. 101 – 128.
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Fischer, Klaus: Wissenschaftsemigration und Molekulargenetik: Soziale und kognitive Interferenzen im Entstehungsprozeß einer neuen Disziplin. In: Herbert A. Strauss & Klaus Fischer & Christhard Hoffmann & Alfons Söllner: Die Emigration der Wissenschaft nach 1933. Disziplingeschichtliche Studien. München [u.a.]: K.G.Saur, 1991 S. 105 – 135.
Kahlert, Heinrich: Chemiker unter Hitler. Wirtschaft, Technik und Wissenschaft der deutschen Chemie von 1914 bis 1945: Furtwangen: Bernandus- Verlag, 2001.
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